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Survivor Storys

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Wir verstanden, dass sie fast alle unsere Beobachtungsposten getroffen hatten

Amir T.'s story

Die letzte Stunde im Schutzraum war die härteste

Am Anfang war nur ein Pfeifen. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, und meine Frau Miri wurde durch ein vertrautes Geräusch geweckt: Eine Mörsergranate, die gleich fallen würde. Wir hörten keine Sirenen. Trotzdem reichte es aus, um zum Schutzraum zu laufen, der bei uns zu Hause im Kibbuz Nahal Oz auch das Schlafzimmer der Kinder ist. Galia, unsere dreijährige Tochter, und Karmel, unsere einjährige Tochter, lagen in ihren Betten und schliefen aus, nach einem wunderbaren Tag mit einem Ausflug in die schöne Gegend, in der wir leben. Wir wollten sie nicht wecken, doch wir begannen, Taschen zu packen. Wir dachten, es werde einer dieser Tage, auf die wir so gut vorbereitet sind: Raketenbeschuss, Einrichten im Schutzraum und Fahrt mit den Kindern ins Zentrum des Landes.


Gegen sieben Uhr morgens, parallel zu den ununterbrochenen Sirenen und Explosionen, hörten wir zum ersten Mal einen Ton, der das Blut in den Adern gefrieren lässt: Schüsse aus automatischen Waffen. 

Salven. Anfangs in der Ferne, auf den Feldern, und dann näher, auf der Straße, und schließlich direkt in unserer Nachbarschaft und nahe dem Fenster unseres Hauses. Gleichzeitig Rufe auf Arabisch. Wir verstanden sofort, was geschah: Der schlimmste Albtraum wurde wahr. Hamas-Kämpfer mit Waffen betraten das Gelände des Kibbuz, und sie stehen jetzt auf unseren Türschwellen, während wir drinnen mit unseren Kindern eingeschlossen sind.


Wir zogen vor neun Jahren nach Nahal Oz, gleich nach der Operation Protective Edge. Der Ort zog uns wegen der ungewöhnlichen Kombination aus Abenteuerlust, Zionismus und dem Willen für ein gemeinschaftliches Leben an. Es war keine gewöhnliche Entscheidung: Ein junges Paar aus Tel Aviv beschloss, sein Leben in einem Kibbuz am Rand des Gazastreifens zu verbringen.


Nahal Oz, 2022. Die seltenen "Red Alert"-Warnungen [Raketenalarme, Anm. d. Übers.] verdrängten die großen Vorteile des Gemeinschaftslebens und des Kibbuz nicht.


Unsere Familien waren stolz auf unsere Entscheidung, und Nahal Oz wurde unser Zuhause. Dort haben wir im Jahr 2016 geheiratet, am Pool, der nur wenige hundert Meter vom Grenzzaun entfernt liegt. Dorthin sind wir auch zurückgekehrt, nachdem wir drei Jahre in den USA verbracht hatten, wo ich als Journalist für die Zeitung “Haaretz” in Washington arbeitete. Die Entscheidung, 2020 in den Kibbuz zurückzukehren, war noch bedeutsamer als die ursprüngliche Entscheidung, dorthin zu ziehen: Es war eine klare Wahl, die schöne Natur und die warmherzige Gemeinschaft zu unserem Zuhause zu machen. Für immer.


Wir haben während unserer Jahre im Kibbuz unzählige “Red Alert”-Warnungen erlebt. Wir kennen auch die Bedrohung durch Ballons mit Sprengsätzen und den Geruch von Rauch von Bränden auf den Feldern. All das war nicht bedrohlich genug, um uns die großartigen Vorteile des Gemeinschaftslebens und des Kibbuz vergessen zu lassen, besonders für unsere beiden kleinen Töchter, die jeden Tag zu Fuß in den Kindergarten gehen und danach im Kibbuzladen ein Eis kaufen. Für uns haben wir trotz und wegen allem unseren Traum gelebt. Doch jetzt stehen wir vor einer völlig neuen Bedrohung, einer, von der uns versprochen wurde, dass sie verhindert werden kann.


Als wir in den Kibbuz zogen, gab es das beängstigendste Wort “Tunnel”. Doch die Regierung investierte Milliarden von Schekeln in ein unterirdisches “Hindernis”, das diese Bedrohung neutralisieren sollte und uns nachts schlafen ließ. An einem Samstagmorgen erkannten wir, dass dieses “Hindernis” die Bar-Lev-Linie unserer Generation ist, und wir uns jetzt mitten in der Katastrophe von Jom Kippur befinden. Israel hat Tonnen von Beton in den Bauch der Erde gegossen, und die Hamas hat den Zaun mit Traktoren und Pick-ups durchbrochen.


Zuerst fiel der Strom aus. Die Welt wurde dunkel. Wir benutzten unsere Handys als Lichtquelle und lasen gleichzeitig die Nachrichten unserer Nachbarn in der gemeinsamen WhatsApp-Gruppe. Die Angreifer bewegten sich ungestört zwischen den Häusern, in einige brachen sie ein, auf unseres wurden viele Schüsse abgefeuert. Die Mädchen wachten durch die Geräusche auf. Wir erklärten ihnen, dass sie jetzt ruhig sein müssen, sich ins Bett legen und warten sollen. Zu unserer Überraschung machten sie willig mit, zeigten eine Reife, die wir in einem so jungen Alter nicht erwartet hätten. Wir hatten kein Essen im Schutzraum und auch keine Taschenlampe. Bewohner des Nordens, die diesen Artikel jetzt lesen - ich bitte Sie, bereiten Sie sich im Voraus auf jede Situation vor. Vermeiden Sie die Notlage, in die wir geraten sind.


Die Empfang der Handys verschlechterte sich. In den wenigen Momenten, in denen wir kommunizieren konnten, informierte ich meine Eltern über unsere Situation und auch meine Arbeitskollegen Amos Harel und Yaniv Kubovich, Armeekorrespondenten bei “Haaretz”. Ich bin beiden sehr dankbar für die Anstrengungen, die sie während des Morgens unternommen haben, um Armeeoffiziere in Schlüsselpositionen über die Ereignisse in Nahal Oz zu informieren. Doch die Updates, die sie mir aus der Außenwelt schickten, ließen mich erkennen, wie ernst unsere Lage war.

Was in Nahal Oz geschah, wiederholte sich in einer langen Liste von Städten, Kibbuzim und Militärbasen.

Wir verstanden, dass es lange dauern würde, bis Hilfe kommt. Währenddessen wurde vor dem verschlossenen Fenster weiter geschossen. 


Es vergingen schwere Stunden voller Anspannung und Ungewissheit. Wir wussten nicht, was im Kibbuz passierte, und wir konnten einander im Dunkeln nicht sehen. Die Mädchen waren tapfer. Sie lagen vollkommen still im Bett, ohne Essen, und warteten. Gelegentlich baten sie darum, die Tür zu öffnen und im Wohnzimmer zu spielen, und wir erklärten geduldig, dass es draußen gefährlich sei. Wir wussten nicht, ob es den Terroristen gelungen war, ins Haus einzubrechen. Plötzlich hörten wir über uns eine Drohne und laute Explosionen. Wir hofften, dass es die Luftwaffe ist, die auf die Gruppe von Terroristen in unserer Nachbarschaft schießt, aber wir hatten keine Möglichkeit, es herauszufinden.


Eine einzige Nachricht auf dem Telefon gab uns einen Funken Hoffnung: Mein Vater, Reservegeneral Noam Tivon, 62 Jahre alt, schrieb uns, er komme. Wie er kommen würde, wussten wir nicht. Doch wie unsere Kinder in diesen Schicksalsstunden vollstes Vertrauen in uns setzten, beschlossen auch wir, unseren Eltern zu vertrauen. Erst später, am Abend, hörte ich, was ihnen an diesem Tag passiert war. Wie viele Menschen sie zu retten geholfen hatten, und welchen Mut sie dabei zeigten. 


Zuerst kamen sie zum Kibbuz Mefalsim nahe von uns und sahen dort Leichen und verbrannte Autos auf der Straße. Plötzlich tauchten vor ihnen Fußgänger auf, die den 


Hamaskämpfern auf der Naturparty in der Nähe von Be'eri um Haaresbreite entkommen waren. Sie brachten sie in den Norden und fuhren dann wieder in Richtung Nahal Oz. Mein Vater traf dort eine Gruppe von Soldaten, die tatenlos auf der Straße standen und auf Anweisungen warteten. Er berichtete, dass totales Chaos und Unordnung herrschte, da die Verbindung zu den höheren Kommandoebenen abgebrochen war. Einer der Soldaten war einverstanden, mit ihm in Richtung Nahal Oz zu fahren. Meine Mutter blieb in Mefalsim, und die zwei machten sich auf den Weg.


In der Nähe des Kibbuzeingangs sahen sie vor ihren Augen ein schweres Feuergefecht, in das Soldaten der Kommandoeinheit Maglan verwickelt waren, die unterwegs nach Nahal Oz waren. Mein Vater und der zugestiegene Soldat, Avi Zafrani, stiegen aus dem Auto, schlossen sich den Soldaten an und halfen, die Terroristen auszuschalten. Dann luden sie zwei vom Feuergefecht Verwundete in ihr Auto und fuhren zurück nach Mefasim. Dort beschlossen meine Eltern in einer Blitzentscheidung, sich zu trennen Meine Mutter brachte die Verwundeten nach Aschkelon, während mein Vater erneut versuchte, nach Nahal Oz zu gelangen. Dieses Mal schloss sich ihm der Reserve General Israel Ziv an, der wie mein Vater und der ehemalige Generalmajor Yair Golan die Uniform anzog und als letzter Reservist im Einsatzgebiet ankam, um zu versuchen, Leben zu retten.


Am Eingang von Nahal Oz trafen sie Soldaten der Kommandoeinheit Maglan und einer Eliteeinheit der Fallschirmjäger, die den Kibbuz für eine Such- und Säuberungsaktion unter sich aufteilten. Mein Vater schloss sich einer Gruppe Maglan-Soldaten an, die begannen, von Haus zu Haus zu gehen; sie töteten mindestens sechs Terroristen und holten Dutzende von Menschen aus den Schutzräumen heraus, nach fast zehn Stunden. Einige der Nachbarn und Freunde im Kibbuz waren erstaunt, "Amirs Vater" zusammen mit den Soldaten zu sehen, die gekommen waren, um sie zu retten. Sie schickten uns Nachrichten, aber zu diesem Zeitpunkt waren unsere Handys bereits tot. Der einzige Hinweis darauf, dass sie sich näherten, waren die Schüsse, die jedes Mal gut zu hören waren, wenn die Soldaten auf Hamaskämpfer stießen.


Die letzte Stunde im Schutzraum war die härteste. Die Dunkelheit brach herein, die Luft wurde knapp, und die Kinder baten immer häufiger darum, hinausgehen zu dürfen. Das Einzige, was sie ruhig hielt, war unser Versprechen, dass Opa unterwegs sei. Gegen vier Uhr hörten wir ein Klopfen am Fenster und dann eine vertraute Stimme. Galia sagte sofort: "Opa ist hier." Zum ersten Mal seit dem Morgen brachen wir alle in Tränen aus.


In den kommenden Stunden wurde unser Zuhause zur Kommandozentrale. Soldaten kamen und gingen und brachten uns verletzte Nachbarn, Familien, deren Haustüren während des Durchkämmens zerstört worden waren, und ältere Menschen, die nicht länger alleine bleiben wollten. Aus der unerträglichen Einsamkeit des Schutzraums wurde eine aufgeregte Zusammenkunft. Doch die Freude währte nicht lange. Mit jeder neuen Familie, die in unser Haus kam, erfuhren wir von weiterem Schmerz, Schrecken und Angst.

Tote, Vermisste, Verletzte. 

Das Ausmaß der Tragödie für uns, für die umliegenden Gemeinschaften und für den Staat Israel wurde immer klarer.


Bei einem flüchtigen Blick durch die Tür sahen wir fünf Leichen von Terroristen auf dem Boden liegen, einer von ihnen trug eine Panzerfaust. Der Tod war näher, als wir in unseren schlimmsten Momenten erahnt hatten. Doch in den Abendstunden, als wir zusammen mit einer Nachbarin ein Abendessen für zwölf Kinder zubereiteten, realisierten wir dies noch nicht. Das kam erst später, mitten in der Nacht, im Bus, der die Bewohner des Kibbuz von der Grenze weg brachte 


Nahal Oz wurde nach dem Tod von Roi Rotberg im Jahr 1956 und der berühmten Rede von Moshe Dayan an seinem Grab zum Symbol. Zum Symbol für Entschlossenheit, Resilienz und Zielstrebigkeit. Für uns war es einfach ein Zuhause, ein geschützter Ort, geliebt, warmherzig, mit den Menschen, die wir auf der Welt am meisten lieben. Am Donnerstag, zwei Tage vor der Katastrophe, haben wir noch Freunde aus Gush Dan bei uns beherbergt, die sich in die vielen Grünflächen verliebten. Doch in diesem Krieg ist etwas zerbrochen. Der Vertrag zwischen uns und dem Staat war klar: Wir schützen die Grenze, und der Staat schützt uns. Wir haben unseren Teil tapfer erfüllt. Für zu viele Nachbarn und geliebte Freunde hat der Staat am schwarzen Samstag des 7. Oktober seinen Teil nicht erfüllt.


Amir T.

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